Das Gasthaus in Recklinghausen hat die Bedürftigen im Blick: Ein Schutzraum für die Menschen
Aus dem Arbeitsbereich unserer Schwester Judith
Am Eingang geben sich die Gäste die Türklinke in die Hand, in der Küche herrscht Hochbetrieb. Der Salat und das Kartoffelpüree sind vorbereitet, der Leberkäse und die Spiegeleier werden nach und nach gebraten. Um 12 Uhr ist Essenszeit im Gasthaus in Recklinghausen. Die Plätze in den einzelnen Räumen sind alle besetzt. Das geht in Coronazeiten schneller, denn Abstände müssen eingehalten werden. Doch zur Not findet sich noch ein Platz im Zelt, das auf dem Vorplatz aufgestellt ist. Die Tische sind eingedeckt. Dann wird es hektisch. Mit dem Speisenaufzug kommt das Essen ins Erdgeschoss. Ehrenamtliche und Mitglieder des Gasthausteams verteilen die Schüsseln auf den Tischen, gehen mit Platten durch die Räume. Niemand wird vergessen.
Susann, Harry und Ruslan sind drei der rund 50 Gäste. Sie essen regelmäßig im Gasthaus. „Ab Mitte des Monats wird das Geld knapp. Das Angebot ist eine große Hilfe. Und wenn ich Dienste übernehme, muss ich nicht den Wert Euro für das Essen bezahlen“, berichtet Ruslan. Der 21- Jährige kommt seit vier Jahren regelmäßig ins Gasthaus. Neben seinem Teller liegen zwei Bücher. Ein Krimi und eine Taschenbuchausgabe von „Also sprach Zarathustra“ von Friedrich Nitsche. „Ich lese sehr viel. Ganz unterschiedliche Bücher. Mir macht das Spaß und ich lerne dazu“, erklärt der junge Mann. „Er weiß total viel“, wirft Susann ein. Auch sie kommt regelmäßig zum Frühstück und zum Mittagessen. Durch die Coronakrise sei es besonders eng in ihrem Portmonee geworden. „Ich habe vorher unter anderem in der Gastronomie und in einer Reinigung in Teilzeit gearbeitet. Die Jobs sind weggefallen“, berichtet Susann und fügt bedauernd hinzu: „Wir haben keine Möglichkeit mehr, wie normale Menschen zu leben.“ Das beginne schon beim Einkauf von Kleidung. Lange waren die Geschäfte geschlossen und Online war eine Bestellung für sie nicht möglich. „Ich bin so froh, dass das Gasthaus während der ganzen Zeit geöffnet war“, lobt sie. Susann, die Wert auf ihr Äußeres legt und froh ist, dass beispielsweise regelmäßig eine Friseurin ihre Dienste im Gasthaus anbietet, spricht von der versteckten Armut, die gerade bei Frauen ein Thema sei. „Ich weiß ein Lied davon zu singen“, bedauert sie. Auch für Harry ist die Tischgemeinschaft wichtig. „Ohne diese regelmäßigen Sozialkontakte würde ich gar nicht mehr rauskommen. Außerdem gibt es einen guten Zusammenhalt. Wir helfen uns gegenseitig“, merkt er an. Er sei glücklich, dass es diese Möglichkeit in der Recklinghäuser Innenstadt gebe.
Das Team der Gastkirche und des Gasthauses weiß um die Themen ihrer Gäste. „Es ist eine verrückte Zeit. Alles ist anders. Aber Gottseidank gibt es ein bisschen Licht am Ende des Tunnels“, sagt Ludger Ernsting. 90 Prozent der regelmäßigen Gäste hätten vor vier Wochen das Impfangebot des Gasthauses angenommen. „Es bestand großes Interesse. Wir haben viele Gespräche im Vorfeld geführt“, berichtet der Seelsorger. Zu keinem Zeitpunkt habe es im Gasthaus einen Lockdown gegeben. Die Tür sei wie immer ab dem Frühstück bis 14 Uhr geöffnet und der Empfang besetzt gewesen. Rund 20 Prozent mehr Gäste und Besucher seien gekommen, da andere soziale Einrichtungen geschlossen oder ihr Angebot minimiert hätten. Auch sei man in der „harten Lockdown-Phase“ abends noch einmal mit warmer Suppe durch die Stadt zu Aufenthaltsorten der Freundinnen und Freunden von der Straße gegangen. „Jeden Abend haben wir Dank gesagt, dass alles gut gegangen ist und sich niemand mit Corona infiziert hat“, gibt Ernsting zu. Sicherlich seien die Schutzmaßnahmen mühselig und anstrengend, aber die meisten würden sich daran halten.
Corona wirke wie ein Brennglas, das die Situation der Menschen offenlege. „Die Obdachlosen wurden in der Stadt sichtbarer, weil nicht so viele Menschen unterwegs waren. Sonst hat man sie vielleicht eher am Rand wahrgenommen“, erklärt er. Viele von ihnen habe die Situation belastet. „Sie sind allein und schutzlos, vor allem am Abend, wenn niemand mehr auf der Straße unterwegs ist und sie keine schützende Tür hinter sich schließen können“, berichtet er. Das habe sich mit den fallenden Inzidenzwerten inzwischen etwas verändert. Die größte Solidarität gebe es allerdings untereinander. Wenn beispielsweise jemand einem Kumpel einen Platz in seiner Wohnung angeboten habe, habe das schon einiges aufgefangen. Zwischen 35 und 80 Menschen lebten in Recklinghausen auf der Straße, schätzt Ernsting. Rund ein Fünftel der Bedürftigen seien auf der Straße unterwegs. „Die anderen versuchen, ihre Armut zu verstecken. Sie gehen im Stillen die Mülleimer ab. Einige sind auffälliger als andere. Aber auch das liegt wieder daran, dass insgesamt weniger Menschen unterwegs sind“, erklärt er. Besonders habe es die Flaschensammler getroffen, die einen Teil ihres Lebensunterhalts über das Pfand finanzierten. „Es gibt keine Feste, bei denen sie ein gutes Zugeld verdienen können“, macht er aufmerksam.
Die Coronakrise belaste die Einzelnen. „Egal, ob sie auf der Straße leben oder eine Wohnung haben. Ihre kleinen Jobs sind durch Corona weggefallen“, berichtet er. Zudem steige die Zahl der psychisch Erkrankten merklich. „Die Kliniken sind voll, es gibt keine Therapieplätze. Es treten verschiedene Prozesse ein wie beispielsweise ein Wohnungsverlust“, erklärt der Seelsorger.
Aber auch für die Helferinnen und Helfer sei es eine schwere Zeit. „Zahlreiche unserer Ehrenamtlichen gehören zur Risikogruppe. Trotzdem haben viele ihre Dienste weitergeführt, weil es ihnen um die Menschen geht, die ins Gasthaus kommen“, berichtet Ernsting. Zudem hätten sich vermehrt Jüngere gemeldet und ihre Unterstützung angeboten. So wie Franziska Bücking. Die 20-Jährige engagiert sich seit Januar im Gasthaus. Eigentlich wollte sie ein Studium der sozialen Arbeit beginnen. Das verzögert sich allerdings wahrscheinlich bis in den Herbst. „So habe ich Zeit. Es ist eine tolle Sache, hier mitzuhelfen. Die Atmosphäre ist gut und ich fühle mich in diesem offenen Haus sehr wohl“, sagt sie. Sie hilft in der Küche, beim Essenausteilen oder in der Kleiderkammer. „Unsere Gäste sind sehr unterschiedlich. Manche sind ruhiger, andere wollen gern sprechen. Oft erhalte ich ein Danke von ihnen und merke, dass sie die Arbeit wertschätzen“, berichtet sie.
Für die Mitglieder der Kommunität, Pfarrer Ludger Ernsting, Schwester Judith, Schwester Franziska, Bruder Bernhard und Bruder Ralf, ist es ein Anliegen, sich für die Menschen einzusetzen. „Die ‚Option für die Armen‘ ist im Pastoralplan des Bistums festgehalten. In der Pandemie ist deutlich geworden, dass diese Option oft nicht präsent ist. Ich wünsche mir, dass in den Pfarreien die Hilfe konkreter wird. Diese Aufgabe gehört zum Selbstverständnis von Kirche“, plädiert Ernsting für mehr Engagement in den sozialen Fragen und Problematiken.
Text: Michaela Kiepe, Bischöfliche Pressestelle
Fotos: Achim Pohl, Bischöfliche Pressestelle