Eine Legende - Zwei, die aus derselben Quelle trinken
Chiara und Francesco wollten sich nach langer Trennung wiedersehen. Sie vereinbarten einen Ort in einem Tal bei Assisi, an dem sie sich gerne aufhielten. Auf dem Grund des Tales hatte sich ein Bach sein Bett gegraben. Nun kam es, dass Chiara zur vereinbarten Zeit auf der einen, Francesco aber auf der anderen Seite des Baches ankam. Sie standen nur wenige Meter voneinander entfernt, aber der Bach trennte sie. Chiara rief Francesco zu: "Komm herüber!" Francesco aber wehrte ab: "Das Wasser ist tief und reißend, es würde mich umbringen. Lasst uns eine Brücke suchen."
Sie suchten eine Brücke, aber es gab keine. "So können wir uns heute nicht begegnen, gehen wir nach Hause!", sagte Francesco traurig. Chiara aber war beharrlich: "Wir gehen den Bach hinauf bis zur Quelle. Dort ist das Wasser niedrig, wir können hindurchwaten und zusammenkommen." So wanderten sie den Lauf des Baches hinauf. Der Weg wurde steil und anstrengend. Es dauerte Stunden. Aber die Freude, miteinander sprechen zu können, ließ Francesco und Chiara die Hindernisse mühelos überwinden.
Schließlich kamen sie zur Quelle des Baches. Sie war so lauter und klar. Sie spürten Durst. Sie schöpften mit den Händen Wasser aus der Quelle und tranken es wie eine Köstlichkeit. Das Wasser war wie ein Spiegel, darin Chiara und Francesco ihr eigenes Bild fanden.
"So ist unser Leben", sagte Chiara, "wir sind unterwegs, jeder auf seinem Weg. – Menschen sind nicht geschaffen, einander zu haben und festzuhalten, Menschen sind geschaffen, miteinander zu ihrer Quelle zu finden. Menschen sind geschaffen, Gott zu genießen."
(Helmut Schlegel, Assisi für Pilger, Werl 1995, S. 96f)